Kälte nur für Touristen
- alq504
- 19. Sept. 2023
- 3 Min. Lesezeit
Da geht wieder jemand schwimmen im Meer. Ich sitze im Auto auf dem Parkplatz mit Blick auf die Wellen in Sandy Bay und sehe die Frau im schwarzen Badeanzug am Strand entlanglaufen, ein Handtuch lässig überm Arm, sie ist gerade aus dem Wasser gekommen und geht nun in aller Ruhe - nass, tropfend - zu ihrem Wagen.
Nicht unbedingt erwähnenswert, aber es ist August und daher Winter in Tasmanien, also genauer gesagt mitten im Winter! Und zwar auf der Südhalbkugel in Richtung Antarktis.
Die Temperatur letzte Nacht lag bei 1 Grad, Frost heute Morgen, jetzt am späten Nachmittag haben wir 10 Grad draußen, das Wasser hat die gleiche Temperatur, und da kommt sie aus den Wellen und läuft im nassen Badeanzug sehr entspannt am Strand entlang.

Die Bruny Wild Swimmers auf Facebook
Auf der Südhälfte Bruny Islands gibt es eine Schwimmgruppe, Bruny Wild Swimmers, die sich dreimal wöchentlich zum Frühschwimmen in den eisigen Fluten in Adventure Bay trifft. Morgens! Ganz früh um halb acht!
Auf Nord-Bruny gibt es eine ähnliche Gruppe – morgens um 11 Uhr geht‘s ab ins kalte Nass bei jedem Wetter! Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann HerrIngenieur und FrauLehrerin dran glauben müssen . . .
Die Steigerung dazu, sozusagen das Eiskrönchen auf dem nassen Haupt tragen aber tausende von Nacktschwimmern, die immer zur Wintersonnenwende in Sandy Bay ins Wasser gehen, ja doch, ohne alles, aber mit Bademütze!

Foto: The Mercury
Diese närrischen Kaltschwimmer gibt es zwar auf der ganzen Welt, es soll ja sehr gesund sein, aber die Tasmanier haben Kälte zu einer Lebensart entwickelt:
Das Gefühl für niedrige Temperaturen scheint ihnen schlichtweg abhanden gekommen. Anfang August zum Beispiel, bei 7 Grad Tageshöchsttemperaturen, läuft unser Nachbar in Badeschlappen, ohne Socken natürlich, mit kurzen Hosen und immerhin einem langärmeligen Sweatshirt im Garten herum:
„John, ist dir nicht kalt?“ Dumme Frage, aber er lächelt trotzdem sehr höflich.
„Nein, ist ja noch nicht richtig Winter.“ Aha. Wann könnte denn richtig Winter sein, überlege ich, wenn nicht jetzt mitten drin?
Ich stehe dementsprechend in Lammfell-Hausschuhen, langen dicken Jogginghosen samt Pullover, Sweatshirt und Schal draußen auf der Terrasse und schaue ihm zu, wie er seinen Rasen pflegt und das geht so: John sät Rasen, Gras wächst ein wenig, zartes Grün keimt, Känguru kommt nachts und frisst es weg. John sät wieder Rasen, es wächst wieder und so weiter und so weiter. John weiß, dass das Känguru sein frisches Gras frisst; und ich vermute, das Känguru weiß, dass John wieder Rasen sät . . ., aber wir reden nicht weiter darüber.

Also Winter in Tasmanien: die Kinder morgens an der Bushaltestelle in Schuluniform, was heißt: ein Blazer oben, kombiniert mit kurzer Hose oder Rock darunter, keine Strümpfe, aber immerhin Schuhe. Spaghetti-Träger kommen bei etwa 16 Grad zum Vorschein.
Beim Joggen im kalten Wind am Strand wiederum tragen die Sportlichen oben ein schickes Mützchen und Schlupfschal, dann unten wieder Shorts, aber keineswegs und auf gar keinen Fall Socken in den Laufschuhen. Ich nehme an, die Socken-Strumpfhosen-Leggings-Industrie in Tasmanien ist eine echte Niete.
„Also, John, wann ist denn nun wirklich richtig, echter Winter?“, hake ich wieder nach.
Er schaut mich etwas mitleidig an. „Naja, das ist noch ‘ne Weile hin . . . “, sagt er.
Da wir Anfang August haben und im September der Frühling beginnt, muss das wohl heißen: es gibt keine Winter-Kälte hier unten, frieren ist nur für Touristen.

Mein Kalenderblatt im August,
wenn es in Deutschland schön heiß ist.


