Das Schweigen der Lämmer - nicht ganz
- alq504
- 9. Dez. 2023
- 4 Min. Lesezeit

Das ist Gretel aus Franklin
Es ist Sommer in diesem Teil der Welt, also Dezember in Tasmanien und die Zeit vor Weihnachten, in der sehr viele Menschen gleichzeitig entdecken, dass sie noch unbedingt zum Einkaufen in die Stadt fahren müssen.
Zur Abwechslung machen wir uns mal auf die Suche nach dem „echten Landleben“, country style, raus aus der belebten Stadt soll es gehen, zu einem Wochenende auf der Farm – so richtig authentisch beim Bauern.
Nachdem uns der Verkehr der Hauptstadt entlassen hat, sind wir unterwegs nach Ellendale und dabei auf unserer Reise durch das Landesinnere meist mit uns allein.
„Es muss doch hier Touristen geben, schließlich ist es Dezember – Sommer - Hauptreisezeit!“, sage ich mal so in die ländliche Ruhe hinein. Doch über viele Kilometer begegnet uns kaum ein Auto, nichts als grüne Wiesen im Tal des Derwent River, friedlich grasende Schafe und sanfte Waldhügel, hin und wieder eine Ansammlung von kleinen Häusern.
Als die Sonne hinter dem Horizont untergehen will, sind wir immer noch nicht am Ziel und haben offensichtlich das Ende der Zivilisation erreicht: keine Menschenseele unterwegs, die Tankstelle ist geschlossen: „Wir haben uns verfahren“, jammere ich, doch da finden wir endlich den Hinweis: „Old MacDonald’s Farm“ steht auf einem unscheinbaren Schild auf der anderen Straßenseite.

Die Old MacDonald Farm ist heute Sassafras Springs, ein wunderschönes Ferienhaus!
Ein Feldweg schickt uns in die Wildnis, führt uns den Hügel hinauf, im Schritt-Tempo tuckern wir über ausgeprägte Sandkuhlen, struppige Farne rascheln unterm Auto, da steuern wir endlich auf ein ältliches Farmhaus zu. Die weiße Farbe blättert schon etwas ab, „Fenster könnten auch mal gestrichen werden“, notiere ich in Gedanken. Dahinter beginnt eine Art dunkel-feuchter, mächtiger Regenwald.

Foto: Credit Australian Views
Etwas verunsichert über so viel echte Natur schaue ich in Richtung Haus. Ein Mann im mittleren Alter, wohl Old MacDonald, mit einer völlig blutverschmierten Schürze um die Hüften kommt uns entgegen.
„Du . . ., bist du sicher, dass wir hierher wollen?“ frage ich HerrIngenieur. Der sagt gar nichts, schaut gebannt auf Blut und Schürze und flüstert: „Das ist wirklich Blut.“
Beiläufig werfe ich einen schnellen Blick auf die Wendemöglichkeit im Hof.
„Hallo, willkommen bei uns“, ruft er jetzt vor der Kühlerhaube und winkt mit kräftigen Händen, „kommt nur heraus.“
Ich versuche ein zaghaftes Winke-Winke mit der Hand, als er sich zum Fenster beugt: „Entschuldigt meine Schürze“ sagt er verschmitzt, „aber ich schlachte gerade ein Schwein.“
„Ach, na dann“, sage ich und atme wieder aus, so als wäre das ganz normal im Kurzurlaub – jede Menge Blut, totes Schwein, mitten hinein in die Schlachterei . . . ja, warum denn nicht!
„Ein Schwein?“ fragt HerrIngenieur etwas dümmlich.
„Ja, da hinten“, freundlich weist er die Richtung – mitten im Hof, im Zentrum seiner drei Ferienhäuser hängt das tote Tier zwischen zwei Holzbalken, einer Art Galgengerüst, das frische Blut tropft auf den Boden; ein kleines Schaf steht angeleint, jämmerlich blökend etwas weiter hinten in einem Holzschuppen – was mag mit ihm geschehen?
Die Innereien seien bereits in einer Kiste aussortiert. Ach tatsächlich!
„Jetzt müssen nur noch die Beine weg“, erklärt MacDonald die Lage und mein Puls geht wieder hoch, Fluchtinstinkt wird wach - nein vielen Dank, wir wollen nicht weiter zuschauen, ja, Koffer auspacken wäre sicher eine großartige Idee. Sehr entschlossen steige ich aus und schieße auf das nächste Ferienhaus zu, möglichst schnell am Schwein vorbei.
Und ganz entschieden lehne ich den zart-rosa geräucherten Schinken zum Abendessen ab. „Der beste Schinken weit und breit“, wie ihn Old MacDonald rühmt. Kein Zweifel, aber nicht für mich heute, doch ich nehme gerne die frischen Eier . . .
HerrIngenieur, das kalte Männerherz, hat natürlich keine Hemmungen, die Schlachterei hat ihm gewaltig imponiert, „wir können doch wenigstens mal probieren . . .“
Nein, nix – ganz entschieden Nein!

Ein altes Foto aus früheren Tagen; Old MacDonald ist leider 2019 verstorben.
Am nächsten Morgen erwartet uns ein gut gelaunter Hund vor der Tür. „Bandit“ heißt er, seines Amtes Hofhund und er soll uns die Farm zeigen. Einigermaßen beruhigt stelle ich auf dem Rundweg fest, dass der Großteil der Tiere hier noch lebt, die Ente Ferdinand, das Schaf Ma und „Babe the pig“, na also, so geht's doch auch, ein paar Pferde genießen das saftige Gras, der Ziegenbock auf dem Dach eines Heuschuppens schaut uns versonnen nach – die Welt hier oben zwischen Fluss, Pferdeweide und Ententeich ist wieder in Ordnung.
Unnötig zu erwähnen: den Schweine-Mord-Galgen spare ich bei meiner Tour natürlich aus, auch der Schinken bleibt weg.

Die Kreisverwaltung von Central Highlands (Ellendale) begrüßt ihre Besucher auf der homepage mit diesem Foto!
Nachtrag: Jaja, höre ich dich sagen, das echte Tasmanien sollte es sein, die „wilderness“, die großartige Natur! Ich hatte nur vergessen, wie natürlich die Natur ist abseits von europäischen Ferienparadiesen. Und hier, in Ellendale auf einem wirklich großartigen Fleckchen Erde, liegt dann meine überzivilisierte, deutsche Welt ganz klar im Widerstreit mit dem echten Landleben.
Wer Schinken essen will, muss ein Schwein schlachten. Das Wissen ist natürlich aus Schulbüchern und wenn du vor der Fleischtheke auf frische Schweinelendchen deutest, weißt du zwar, wo das Fleisch herkommt. Aber nur wenn du vor den Holzbalken stehst, an denen ein nacktes Schweinchen ausblutet, wenn du auf das Schäfchen blickst, das auf sein gleiches Schicksal wartet, dann fühlst du, was du da gerade in die Pfanne legst; oder was der Unterschied ist zwischen echtem Landleben und der romantischen Idee vom Leben auf dem Land.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die englische Sprache, die Sprache der Diplomatie, sehr feinsinnig unterscheidet zwischen „pig“, für ein lebendes Schwein und „porc“, was Schwein als Wurst- und Fleischwaren kennzeichnet.


